Rock climber on the edge.

Von der Angst, die Träume in Leben nicht zu erreichen

Selbstverwirklichung. Ein Modewort, ein Versprechen, etwas für junge Träumer und deshalb nichts für Sie?

Früher, als Sie am Anfang Ihrer Karriere standen, da blühte die Selbstverwirklichung wie Gänseblümchen am Wegesrand. Sie hätten sie tausendfach pflücken können zu einem dicken Strauß – aber sie taten es nicht. Weil Sie dachten, die Zeit sei nicht reif. Weil Sie hofften, diese Blumenwiese vor Ihnen würde niemals welken. Optimistisch wie Sie waren, verlagerten Sie die Selbstverwirklichung in die Zukunft.

So blieb das Wort in Ihren Gedanken zwar präsent, aber Sie füllten es nicht mit konkreten Ideen. Allein der Klang reichte aus, um sich zu sagen: »Irgendwann werde ich meine ganz persönlichen Ziele definieren und erreichen. Dann werde ich dort stehen, wo ich mich wohlfühle und wo ich Glück empfinde. Bis es soweit ist, gibt es viel zu tun. Nichts wird einem im Leben geschenkt, jeder Erfolg erfordert Schweiß.« Der Logik dieser Gedanken folgend, beendeten Sie erst das Studium, gründeten eine Familie, erarbeiteten sich ein Profil im Job, stiegen auf zum Abteilungsleiter. Ein Schritt nach dem anderen, das war Ihr Rezept, um nicht zu stolpern. Außerdem hatten die anderen anderes mit Ihnen im Sinn als Ihre Selbstverwirklichung. Sie intervenierten, wenn Sie von Ihren Träumen sprachen. Dann kam die Antwort prompt: »Du kannst nicht nur an dich denken. Du hast Pflichten.« Dieser Protest traf Sie tief, denn ein Egoist wollten Sie niemals sein. Konsequenterweise strichen Sie irgendwann das Wort, das die anderen reizte, gänzlich aus Ihrem Vokabular. Das war ein Fehler. Das wissen Sie heute. Denn was daraufhin geschah, war das Sterben der Träume.

Wenn Sie sich heute umblicken, dann entdecken Sie die Gänseblümchen an Ihrem Wegesrand nicht mehr. Er scheint mit Pflichtaufgaben zementiert. Nur manchmal erinnern Sie sich, dass Sie vor vielen Jahren farbige Bilder mit Tupfern in sich trugen. Die waren voller Poesie und überraschenden Momenten. Sie hätten sich vorstellen können, in Australien zu studieren, einmal ein Formel-Eins-Rennen zu fahren, vor der Hochzeit mit dem Rucksack nach Tibet zu wandern. Bei dem Gedanken, dass sich Ihr Magen vom Buttertee in den Bergdörfern verdrehen würde, lächeln Sie leise vor sich hin und denken:

»Vielleicht sollte ich diese Tour noch einmal planen?« Aber sofort hören Sie die Stimmen von damals: »Du kannst nicht nur an dich denken. Du hast Pflichten.« Glaubenssätze können mächtig sein.

 

Pyramiden besteigen

Selbstverwirklichung gehört in die Lebenswelt der Reichen, Kreativen und finanziell Unabhängigen. Nur wenige Menschen können sich diesen Luxus leisten, die weitaus größere Anzahl ist verdonnert, Verantwortung für sich und andere zu übernehmen. – Sollten Sie in dieser Weise denken, wären Sie nicht alleine. Spätestens seit der US-Psychologe Abraham Maslow im Jahre 1954 seine fünfstufige Bedürfnispyramide entwarf, ahnen wir, wie beschwerlich der Weg zu einem selbstbestimmten Leben ist. In seinem Modell erklärte er die weite Strecke von der Erfüllung der Grundbedürfnisse bis hin zur Selbstverwirklichung. Er war der Ansicht, dass die Spitze der Pyramide nicht mit einem einzigen Sprung vom Boden erreicht werden kann und dass nur wenige Menschen überhaupt diese Spitze erreichen.

Nach der These Maslows sehen die Stufen wie folgt aus:

  1. An der Basis befinden sich Grundbedürfnisse wie Hunger und Durst. Ohne diese zu stillen, wären Menschen nicht überlebensfähig. Diese Stufe erklimmt der Mensch mit der Geburt.

 

  1. Sobald die erste kleine Zufriedenheit eintritt, weil der Mensch gesättigt ist, rückt die Sicherheit in den Fokus seiner Interessen. Auch hier darf es keinen Mangel geben. Das würde eine grundsätzliche Gefährdung des Lebens bedeuten.

 

  1. Was folgt, ist der Wunsch nach sozialen Bindungen und ab dieser Stufe bewegt sich der Mensch in der Wachstumsphase. Er öffnet sich nach außen, nimmt Eindrücke wahr und Erfahrungen in sich auf. Der Fokus ändert sich für die Möglichkeiten im Leben.

 

  1. Mit seinem Grundrauschen an Zufriedenheit wächst die Selbstachtung des Menschen. Er blickt zunehmend mit Stolz auf das Erreichte, sieht auf die Spuren, die er in seinem Leben zieht. Viele Menschen verharren hier, weil es ihnen gut geht. Die Spitze der Pyramide zu erreichen, scheint nicht mehr nötig. So machen sich nach Umfragen lediglich 2 Prozent auf, um wirklich, wirklich zu leben wie sie wollen, um das Beste aus sich herauszuholen, was möglich ist.

 

  1. Wer sich nun weiter wagt und weder Risiko noch Schwindel scheut, der landet auf der Pyramidenspitze. Hier oben blüht seine Lebenswiese in schillernden Farben, hier landet der Mensch mitten in seiner Selbstverwirklichung. Unterwegs hat er sein Kinn in die Luft gestreckt und den Blick in die Ferne schweifen lassen. Er hat sich an vielen Gefahrenstellen gesagt: Meine Stärken werden wie ein Handlauf sein, an dem ich mich halten kann.

 

Zählen Sie zu den 2 Prozent der mutigen Kletterer? Oder suchen Sie nach Gründen, um auf der vorletzten Stufe stehenzubleiben und den anderen nachzusehen, die das Wort Selbstverwirklichung mit Aufbruch und Anstieg verbinden? Besser wäre es, Sie würden sich an Ihr Talent erinnern und den letzten Gipfelsturm wagen. Sie würden dann aufhören, Ausreden für Ihre Dauerpause vor dem Anstieg zu erfinden. Sie könnten sich einfach sagen: Ich will weiter. Keine Ausrede. Weil dort oben der Anteil des Glücks größer wird. Weil der Stopp kurz vor dem Ziel niemals zufriedenstellt.

 

Autor:
Frank Rebmann ist als Stärkentrainer für Führungskräfte und Mitarbeiter zahlreicher Unternehmen der Industrie, Finanzdienstleistung und der IT-Branche tätig. Er berät, trainiert und schult in den Bereichen Mitarbeiterentwicklung, Veränderungsprojekte und Talent Management. Zu seinen Kunden zählen unter anderem Yves Rocher, Fresenius Kabi und Allianz. Nähere Infos: www.staerkentrainer.de

 

 

 

 

© Auszug aus Frank Rebmann „Der Stärken-Code“, Campus Verlag 2017

 

 

 

Bilder: gregepperson/depositphotos, Frank Rebmann